02.07.2020: Rund um den Irchel

Heute mache ich einen Ausflug in die Familiengeschichte und wie das 20igste Jahrhundert in diese hineinwirkt. Bis am letzten Sonntag war mir kaum bewusst, wie einschneidend die Weltgeschichte, bis hinein in die eigene Familie und ins persönliche Leben hineinspielt. Bis meine Eltern erzählten. Mach mit bei einem Ausflug ins 20igste Jahrhundert und in eine Familie, wie sie es wohl zu Tausenden gibt. Das Leben rund um den Irchel lütet den Schleier der Vergangenheit.

Blick vom Irchelturm

Heute verklemme ich mir für einmal Tagesaktualitäten, auch wenn es davon mehr als genug gäbe. Über Maskenphobiker, Superspreader, Clubbesucher und 2. Welle wird aber zur Zeit so viel geschrieben, dass ich für einmal besser schweige. Mein Sarkasmus änderte auch nichts daran.

Letzten Sonntag hatten wir meine betagten Eltern zu Besuch und viel Zeit und Musse über ihr Leben und unsere Familiengeschichte zu plaudern. Etwas, was bisher eher zu kurz kam. Warum sich unsere Elterngeneration eher bedeckt hält, was ihre Vergangenheit betrifft, ist mir – vor allem hier in der Schweiz, ohne Nazigräuel und Bombennächte – schleierhaft. Umso neugieriger bin ich, wenn sich der Schleier über der Vergangenheit etwas lüftet. Wir sind schliesslich Teil davon und diese prägt uns mehr, als uns wahrscheinlich bewusst ist. Hier also ein paar Erinnerungen „Rund um den Irchel“ – von dort, wo unsere Familie herkommt.

Der Irchel – ein bewaldeter Höhenzug zwischen Winterthur und Rhein, die südliche Grenze des Zürcher Weinlands, zwischen Töss- und Thurmündung, ist quasi die Pampa des Kantons Zürich. Ländlich, idyllisch, ruhig und auch heute noch zu 90% landwirtschaftlich geprägt. Sozusagen der Gegenentwurf zu Zürich. Rund um diesen weithin sichtbaren Höhenzug, hat meine Familie ihre Wurzeln. Selbstredend, dass alle mit der Landwirtschaft verbunden sind oder waren. Von ihnen – von den Urgrosseltern bis heute – handelt dieser Blog. Es ist nicht nur ein Blick in eine Familie, es ist vor allem einer in die Geschichte. Der Geschichte des 20igsten Jahrhunderts.

Neu und überraschend für mich war, dass zwei meiner Ur-Grossonkel (Brüder meiner Urgrossmutter mütterlicherseits) in den 90iger Jahren des 19. Jahrhunderts nach Amerika ausgewandert sind – so wie 300‘000 andere Schweizer zwischen 1870 und 1914. Mitten in der industriellen Revolution, gab es einfach kein Auskommen mehr für die wachsende Bevölkerung. So schrumpfte z. B. in Buchberg – dem Heimatort meiner Vorfahren – die Bevölkerung zwischen 1850 und 1920 um mehr als die Hälfte. Die Armut war ein ständiger Gast – und so blieb als Ausweg oft nur noch das Schiff über den Atlantik. Leider ging der Kontakt zu den beiden Auswanderern schon mit dem Tod meiner Urgrossmutter, 1947 verloren – und seitdem warten wir vergeblich auf den reichen Onkel aus Amerika. Vielleicht hilft uns aber dieses Wissen zu verstehen, warum heute Flüchtlinge im Mittelmeer ertrinken. Armut und die Hoffnung auf ein besseres Leben, ist und war zu allen Zeiten ein Grund das Weite zu suchen.

Die Urgrosseltern vaterseits hatten nicht weniger als 11 Kinder. Mit den wenigen Reben und den kleinen Äckern und Wiesen kannten auch sie „Reichtum“ nur vom Hörensagen. So blieben meinem Grossvater nur noch zwei kleine Rebberge und ein paar Äcker. Seine Familie mit drei Kindern, ernärte er als Störmetzger in den umliegenden Gemeinden. Immerhin garantierte dass der ganzen Familie, auch in Krisenzeiten, viel Fleisch auf dem Teller. Mit Jahrgang 1891 trafen ihn die Wirren das 20igste Jahrhundert mit voller Wucht. Kaum aus der Rekrutenschule brach 1914 der 1. Weltkrieg aus und er musste für 4 Jahre an die Grenze. 1918 wurde er sogar nach Zürich, zur Niederschlagung des landesweiten Generalstreiks, beordert. Bauern gegen Arbeiter – eine Erinnerung, die ihn Zeit seines Lebens plagte. Und weil er den „falschen“ Jahrgang hatte, traf es ihn auch im 2ten Weltkrieg. Statt Familie hiess es wieder Militär – diesmal für 5 Jahre. Seinen Lebensmut verlor er aber nie. Ich erinnere mich gerne an seine Geschichten, die er uns beim Runkelrüben putzen erzählte und noch mehr an seine legendären Blutwürste. Im Dorf war er nicht umsonst als „Pfefferschaggi“ (er heiss Jakob) bekannt. Die Liebe zum Pfeffer habe ich wohl von ihm geerbt.

Zu Höherem berufen war einzig mein Urgrossvater mütterlicherseits. Er war Staaatsförster auf dem Irchel und bewohnte mit seiner Familie einen einsamen, in einer Waldlichtung gelegenen Hof am Irchelsüdhang. Müsste man sich einen Ort, wo sich Fuchs und Hase Gute Nacht sagen ausdenken, man würde diesen Talhof im Junkerental (er)finden. Drei Seiten Wald und vor dem Haus eine Wiese mit grasenden Rehen. Leider meinte es das Schicksal mit dem Talhof nicht so gut. Sohn wie Enkel begingen beide, in der Blüte des Lebens, Selbstmord. Einer der Enkel landete in der Fremdenlegion und letztendlich als Alkoholiker unter der Brücke. Eine Enkelin verbrachte ihr Leben in der Psychiatrie. Verstreut in der Nordwestschweiz lebt noch rund ein Dutzend Nachkommen, von denen niemand genaueres weiss – es gibt weder Namen noch Adressen.. Eine seiner Töchter (meine Grossmutter) schaffte es auf die andere Irchelseite, wo sie unter ihrem Stand (wie sie selber meinte), einen Kleinbauern in Gräslikon heiratete. Obwohl ständig am Rande des Existenzminimus, wollte sie nie auf eine Magd verzichten. Als Staatsförsterstochter stand ihr das (angeblich) zu. Otto – ihr Mann – sparte sich das Geld vom Mund ab.

Auch ihn (mein Grossvater mütterlicherseits also) ereilte das Schicksal des 20igsten Jahrhunderts. Mit Jahrgang 1893 durfte er nach der Rekrutenschule gleich bis 1918 im Militärdienst bleiben. Da er vor meiner Geburt verstarb, beschränkt sich meine Erinnerung an ihn auf ein Foto in der Stube meiner Grossmutter. Stolz, in der Uniform der Schweizer Armee, mit Schweizerkreuz und Eichenlaub umkranzt, zur Erinnerung an die Grenzwache zwischen 1914 und 18. Im 2ten Weltkrieg stand er dann nochmals 5 Jahre an der Rheinbrücke in Rheinau und musst seinen Hof Frau, Kindern und Landverschickten überlassen. Angeblich traf ihn sein Lebensmotto: „Wer auf den Scheisshafen geboren wird, bleibt ein Leben lang darauf sitzen“ in besonderem Masse.. Zwei Weltkriege, die Spanische Grippe überlebt und kaum war der Krieg zu Ende, erkrankte er und starb noch vor dem sechzigsten Altersjahr, an Nierenversagen. Diese kollabierte unter den Bergen von R12-Schmerztabletten, die er gegen die Höllenschmerzen seiner Hüftarthrose schluckte. Heute eine Standardoperation mit künstlichem Gelenk – damals ein Schicksal mit unerträglichen Schmerzen.

Mit Ausnahme meiner Eltern fand in der nächsten Generation niemand mehr ein Auskommen in der Landwirtschaft. Dazu waren die zu erbenden Flächen zu klein und die Mechanisierung zu fortgeschritten. Die Familientradition fortgesetzt haben nur ein Onkel,, der wie mein Ur-Grossvater, Förster wurde und eben mein Vater, der den Hof in Gräslikon übernahm. Alle andern verheirateten sich in alle Winde. Aus ihnen wurden Unternehmersgattinen, Hausfrauen, Verkäuferinnen und Fabrikarbeiterinnen.

Exemplarisch für ein Frauenschicksal dieser Generation ist auch der Lebenslauf meiner Mutter. Für Mädchen war damals eine Berufslehre nicht vorgesehen – diese blieb dem männlichen Nachwuchs vorbehalten – und so musste sie schon mit 16 „dienen“, wie es damals hiess. D.h. als Dienstmädchen zu Familen Kinder hüten und im Haushalt helfen. Erst ins Appenzellerland, dann in eine Metzgerei in Zürich und zuletzt ins Pfarrhaus zu Buchberg, wo sie meinen Vater kennenlernte. Ihr Herzenswunsch – Handarbeitslehrerin – blieb ein Leben lang unerfüllt. Mein Vater war als einziger Sohn zwar für den elterlichen Hof in Buchberg vorgesehen. Dieser war jedoch für die Existenz einer Familie im Vollerwerb zu klein und so arbeitete er als Baumwart bei einer Fabrikantenfamilie in der Nachbarsgemeinde, bis er den Landwirtschaftsbetrieb meiner Mutter übernehmen konnte.

1955 war es soweit und meine Eltern zogen von Buchberg nach Gräslikon. Mit viel Fleiss und dem Direktvertrieb von Beeren, Kischen und Obst, schufen sie zusammen einen bescheidenen Wohlstand für sich und ihre drei Kinder. Diesen können sie auch heute noch, im hohen Alter, im eigenen Häuschen geniessen. Die knapp 6 Hektaren Land haben für unsere Generation für eine Existenz nicht mehr gereicht. Das Land wurde verpachtet. Auf ihm wird jetzt Biogemüse angebaut. Einzig meine Schwester folgt noch einer Familientradition. Sie fährt immer noch mit Beeren, Obst und Gemüse auf den Wochenmarkt nach Winterthur. Ihre Produkte kauft sie zu.

Weltgeschichte wird oft abstrakt begriffen und in der Schule meist auf grosse Männer, herausragende Taten, Kriegsereignisse und Daten reduziert. Weltgeschichte spielt sich aber ganz direkt bei uns selber, mitten in den Familien ab und bestimmt das Schicksal jedes Einzelnen. Wie sehr auch meine eigene Familie, ist mir erst seit letztem Sonntag bewusst. Wie sich aber die heutigen Ereignisse – egal ob die aktuelle Pandemie, die Klimakrise oder die technologische Revolution (Digitalisierung, Gentechnik) usw. – auf unsere Kinder und Enkel auswirken, wissen diese frühestens in 50 Jahren. Sicher ist nur, dass sich der Irchel dann immer noch zwischen Thur und Töss erhebt.

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