30.04.2021: Nera Verzasca

Nera Verzascageiss

Es gäbe wahrlich viele Themen über die ich heute schreiben könnte. Da wäre das einjährige Jubiläum meines Wochenblogs. Der erste Beitrag trägt die Überschrift „Landkrank“ und widmet sich dem ersten Lockdown und unserer Heimkehr von unserer abgebrochenen Weltreise. Wer hätte gedacht, dass uns diese Pandemie ein Jahr später immer noch beschäftigt. Gefühlt 3/4 meiner Wochenbeiträge handeln davon. Und jede Woche zermartere ich mir den Kopf, ob es nicht doch spannendere Themen gäbe und scheitere regelmässig. Auch diese Woche gäbe es dazu viel zu sagen, aber ich verkneife es mir, sonst muss ich mich übergeben oder werde noch auf Schmerzensgeld verklagt. Der Aktualität geschuldet läge der „Tag der Arbeit“ nahe. Ich lass es aber und widme mich heute dem Gegenteil: Dem Lob auf die Faulheit und dem Schönen vor unserer Haustür. Dem Verzascatal, wo wir diese Woche sind bzw. waren.

Seit die berühmte Römerbrücke „Ponte dei Salt“, die sich bei Lavertezzo elegant über die türkisblaue Verzasca schwingt, über Instagram zum „Ort wo man gewesen sein muss“ gekürt wurde, ist das einst verarmte Tal, welches in den „Schwarzen Brüdern“ traurige Berühmtheit erlangte, zum Fotosujet handybewehrter Tagestouristen geworden. Und in der Tat, das Gewusel vor, auf und rund um den alten Fussgängersteg, ist auch Wochentags einem Popkonzert ebenbürtig. Wohin sich vor fünfzig Jahren bestenfalls Aussteiger mit ihrem rostigen Bulli verirrten, um aufgelassene Rusticis und Alpweiden wieder zu beleben, wird heute der Postautokurs doppelt und dreifach geführt. Die Sitze rappelvoll. Und auch die Wiederbelebung der alten Gemäuer scheint gelungen. Auf die langhaarigen Aussteigern folgte sichtbar das Geld. Sognogno, das Dörfchen im hintersten Tal, erstrahlt in frischem Glanz. Herausgeputzt, geplästert und frisch gestrichen. Ein Check auf dem Immobilienportal bestätigt den Eindruck. Unbezahlbar.

Einst waren die Talbewohner gezwungen, ihre Kinder zum Reislaufen, nach Mailand in die Kamine oder gleich zum Gold schürfen nach Klondike zu schicken. Ein Glück sind diese dunklen Zeiten vorbei. Die Spuren der damaligen Armut sind heute steingewordene Ferienträume. Und wenn man über gewisse Auswüchse, wie den Hype um die pittoreske Brücke in Lavertezzo, oder das Bungee Jumping von der 220- Meter-Staumauer im Taleingang, die Nase rümpfen mag, so ist und bleibt das Tal doch weitgehend von Tourismussünden verschont. Keine Hotelkästen, keine Retortensiedlungen und keine Schickmickipaläste. Dafür viel Natur, herrliche, liebevoll gestaltete Wanderwege (z. B. der Sentiero del Arte zw. Brione und Lavertezzo) und, zumindest optisch, intakte Dörfchen. Und wenn auch die Mehrheit der ehemaligen Ziegenställe und Heuschober umgenutzt wurden, so kann das Leben im Tal so erhalten werden. Die Alternative wäre wohl die Abwanderung und Verwilderung. Beispiele in Norditalien gibt es genug. So aber grast die schwarze Verzascaziege von Species rara weiterhin auf den spärlichen Wiesen im Tal. Ein besonderer Genuss der „formaggio di capra“, der im Tal produziert wird. Vielleicht haben die neugierigen Vettern Julius Cäsars (die gehörnten Viecher sind direkte Nachfahren der einstigen Römerziege) gerochen, dass ich ihren Käse mag – sie folgten mir auf Schritt und Tritt und erinnerten mich an meinen einstigen Bubentraum, Schafhirte zu werden.

Nebst diesen kulturellen Hinterlassenschaften sticht auch eine wilde, ungezähmte Natur ins Auge. Unzählige, mehrere hundert Meter hoher Wasserfälle tosen in die Verzasca und ohne extra suchen zu müssen, queren Vipern, Feuersalamander und Smaragdeidechsen die Wege. Man wähnt sich in einer anderen Welt, und doch, ist man noch in der Schweiz. Ein Schatz den wir hüten sollten.

Wer jetzt glaubt, das Touristoffice Ticino hätte diesen Text gesponsert, liegt falsch. Er entwuchs allein meiner Begeisterung über eine kurze Woche in einem 30 m2 Steinhäuschen in Brione. So klein, dass wir nachts über eine roh behauene Aussentreppe auf die Toilette mussten. Mit den 1.65 hohen Türrahmen lernten wir sogar freiwillig die gebückte Demutshaltung. Teil des Dorflebens ist man ebenso schnell. Die Nachbarn sitzen quasi mit am Tisch und dem 103-jährigen Talältesten begegnen wir täglich auf der Piazza, wo er offenbar einen grossen Teil seiner Zeit verbringt. In jedem Fall eine Woche zum Abstand nehmen vom Wahnsinn unserer Zeit und eine Woche um Kraft zu tanken. Für einmal hat nur die Nera Verzasca-Geiss etwas zu meckern. Der Blogger faulenzt, schweigt und geniesst.

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