Silvester 2020: Sapere aude

Damals als – so wird erinnert. Damals also, als alle, oder wenigstens fast alle, Masken trugen…. zu Beginn der 20iger Jahre. Ein denkwürdiges Jahr. Was wird davon bleiben? War es der Beginn eines Umdenkens? Das Ende einer Epoche? Die Wende zum Guten oder Schlechten? Vielleicht sogar eine Zäsur? Da uns der Blick in die Zukunft durch die Vergangenheit verstellt ist, müssen wir raten. Selbst Indizien – Erfahrungen genannt – sind nur bedingt hilfreich, denn sie klammern zukünftige Ereignisse naturgemäss aus. Fazit: Die Zukunft findet in der Zukunft statt. Trotzdem sind wir den Ereignissen nicht ganz hilflos ausgeliefert, denn wir können aus vergangenen Ereignissen lernen, unser Verhalten anpassen und Fehler zu vermeiden versuchen. Dies setzt allerdings voraus, dass wir erkennen. Erkennen, woran es liegt, dass wir sind, wo wir sind. Es braucht dazu nicht zwingend das „sapere aude“ Immanuel Kants, es genügt ein ungetrübter Blick zurück. Ein Blick der (ein)ordnet, erhellt und erkennt. Ein Jahresrückblick bietet dazu Gelegenheit. 2020 ganz besonders.

Wo warst du am 16. März 2020 oder was machtest du am 11. September 2001? New York, World Trade Center, Twin Towers, Terror und Osama Bin Laden – 9/11 – ist vermutlich bei uns allen fest verankert. Deshalb wissen wir meist auch nach 20 Jahren noch, wo wir damals waren und was wir gerade taten, als die brennenden Türme, vor den Augen der Welt, in sich zusammen brachen. Aber der 16. März 2020? Am 16. März hiess es: „Bleiben sie zu Hause“ – Lockdown. Seither gibt es ein davor und ein danach. Mich traf es vor Tasmanien. Statt Port Arthur, Tasmanischer Teufel und spektakuläre Strände, hiess es: Zutritt verboten – Hobart ist verseucht. Unverständnis – Frust – und was jetzt?

Was jetzt – auch noch neun Monate später. Statt einer kurzen heftigen Grippe, die, wie es sich gehört, im Frühjahr Leine zieht, entpuppte sich der Krankmacher als fiese Seuche von beinahe alttestamentarischem Ausmass. Ungläubig verfolgen wir seither die steil ansteigenden Kurven der Infizierten und Toten, reiben uns die Augen und stellten erstaunt fest: Alles ist anders. Zwar geht die Sonne weiterhin im Osten auf und im Westen unter – alles Übrige aber ist in Frage gestellt – Gewissheiten inklusive. Und um die Gefühlslage zusätzlich zu verkomplizieren, reiht sich seit Oktober Lockdown an Lockdown, während der neue Impfstoff Normalisierung verspricht und das Virus mutiert. In etwa gleich verrückt, Trumps Abgang als groteske Inszenierung eines Irren. Abgang gewiss, Ausgang ungewiss. Auf dem Rost geröstet werden, ist dagegen Wellness im Jaccusi. Dazu eine Regierung, welche die wirtschaftlichen Sonderinteressen einflussreicher Lobbies offensichtlich höher gewichtet, als unsere Gesundheit. Über die Spätfolgen lässt sich bestenfalls spekulieren. Schaden genommen hat aber mit Bestimmtheit unser Vertrauen. Unser Vertrauen in die Politik und Institutionen – und noch tiefgreifender, unsere Verletzlichkeit. Die Erkenntnis, dass wir nicht die Herren der Schöpfung, sondern in unserem Habitat bestenfalls geduldet sind, grenzt an eine Beleidigung. Der Grat zwischen einem unbeschwerten Leben in Sicherheit, Saus und Braus und einem in Angst um Existenz und Zukunft, entpuppte sich als schmal und brüchig.

Und wo es bricht, öffnen sich Klüfte. Die Kluft zwischen armen und reichen Ländern, zum Beispiel, wenn es um Impfstoffe geht. Zwischen jenen mit Job und jenen ohne. Den Profiteuren des Online-Handels und den zwangsbeurlaubten Wirten, den unterbeschäftigten Selbständigen und jenen, die einsam in ihren Wohnungen sitzen und nicht wissen, wie die nächste Miete zahlen. Getoppt nur noch durch die tiefen Gräben zwischen Vernunft und Aberglaube, Wissenschaft und Scharlatanerie, sowie Dogma und Notwendigkeit. Die bittere Erkenntnis: Das Eis ist dünner, als wir denken. Ob es hält ist mehr Glück als Verstand. Die Aufarbeitung dieser Zäsur, wird Jahre oder Jahrzehnte dauern. Ein erster Test steht quasi Ante Portas. Er lautet: Haben genügend Menschen Vertrauen in die Wissenschaft und lassen sich impfen? Falls nicht, dürfte 2020 nicht das letzte Annus Horribilis gewesen sein.

Doch, auch wenn Corona omnipräsent und Trump nervtötend ist, dürfen wir uns nicht von den Scheinwerfern der Medien blenden lassen. Die Neigung dort zu suchen, wo Licht ist, ist natürlich, selten aber zielführend. Das Böse kommt nicht umsonst aus dem Dunkeln. Was also offensichtlich und in aller Munde ist, ist nicht zwingend dass, was uns Angst machen sollte. So wie Trump nicht Ursache, sondern Folge des Rassismus und des Niedergangs der Mittelschicht war, so ist Corona nicht verantwortlich für das Versagen unserer Politiker. So wie diese auf diese Pandemie reagieren, tun sie es auch beim Klima oder dem Pestizid im Trinkwasser. Erst der Profit, dann der Wähler. Angst sollte uns deshalb nicht das Offensichtliche, wie z. B. ein irrer oder korrupter Politiker, der ein schlechtes Gesetz voran treibt oder halbherzige Massnahmen verordnet, sondern die Mechanismen, die dazu führen. Wenn also der Amazonas oder halb Sibirien brennt, wie auch dieses Jahr, in Bosnien und Griechenland Flüchtlinge wie Dreck behandelt werden (wie gerade in diesen Tagen) und Menschen in Yemen verhungern, sind das tragische Ereignisse, nicht aber der Grund zur Sorge. Sorgen machen sollten wir uns über die Mechanismen, die dazu führen.

Aber welche sind das? Gerade in akuten Krisen und mitten in den turbulenten Ereignissen, sind Muster schwer zu erkennen. Trotzdem sollten wir ab und an etwas beiseite treten und einen nüchternen Blick, aus der Distanz, auf das vermeintliche Chaos werfen. Was also sehen wir? Eine Pyramide. Oben sitzen wenige Profiteure, denen die Politik mit Steuererleichterungen, laschen Gesetzen und billigem Geld dient. Unten all jene, die für sich selber schauen dürfen und hängen gelassen werden. Das Fatale: Die Pandemie verstärkt dieses Gefälle zusätzlich. Wo kleine Firmen ihre Existenz verlieren, treten Konzerne, welche die Konkursmasse zum Schnäppchenpreis an sich reissen. Befördert noch mit dem billigen Geld der Zentralbanken. Aus Vielfalt entsteht Einöde. Der konkurse Wirt darf in Zukunft Burger für einen Amerikanischen Multi braten. Die überschuldete Coiffeuse, Haare für eine hype Haarfabrik schneiden. Gross schluckt klein. Nicht neu – dank Corona nun aber mit Turbobooster. Solange niemand dagegen hält, gewinnt der Starke. 2020 waren das z. B. die 300 Reichsten Schweizer (+ 15 Milliarden) welche durch Steuergeschenke (Streichung der Emisionsabgaben) noch reicher werden. Dafür verloren die Ärmsten 19% ihres Einkommens. Wer genau hinschaut merkt rasch: Die „grosszügige“ Coronahilfe hilft nicht den Bedürftigen sondern den Banken, Immobilienbesitzern und sog. systemrelevanten Betrieben, wie der Swiss. Auf der Strecke bleiben all jene ohne Lobby in Bern, jene auf welchen die Pyramide steht.

Fast hätte ich noch den Brexit vergessen, der uns seit nunmehr fünf Jahren langweilt. Er findet am 31.12.2020 um 23:00 ein betrübliches Ende. Einen Vorgeschmack auf deren Vollzug durften die Briten kurz vor Weihnachten erleben, als Frankreich wegen des mutierten Sars-Virus ihre Grenzen schloss. LKW-Staus durchs halbe Land. Ob die Wähler damals wohl wussten, was sie erwartet? Gute Aussichten sehen anders aus. 2020 kann aber auch eine Chance sein. Viele haben gemerkt, dass es auch mit weniger geht. An vielen Orten konnte sich die Natur erholen. Die neu gewonnene Ruhe, lernten viele zu schätzen. Nicht zuletzt zeigt die Krise, wie wichtig ein funktionierender Staat, ein gut ausgebautes soziales Netzwerk und Solidarität ist. Es liegt an uns, dies einzufordern. Sapere aude – oder wie Horaz 20 vor unserer Zeit schrieb: Dimidium facti, qui coepit, habet: sapere aude, / incipe. Zu Deutsch: „Einmal begonnen ist halb schon getan. Entschließ dich zur Einsicht. Fange nur an!“

31.07.2020: Die nicht gehaltenen 1. August-Rede 2020

Vor einem Jahr hatte ich die Ehre und das Vergnügen in Berg am Irchel mein Debüt als 1. August-Redner zu geben. Das Thema war vorgegeben: 80 Jahre Landihaus – über die Odyssee eines Hauses, von der Landi 1939 bis an den heutigen Standort, im Dorfkern von Berg am Irchel. Eigentlich ein unverfängliches Thema. In einer Gemeinde mit über 50% SVP-Wähleranteil, für einen „Linken und Netten“ wie mich, trotzdem eine Herausforderung – schliesslich erwartet man ja am 1. August ein Lob auf unsere Heimat, etwas Pathos, Selbstlob und die Ermahnung das Alte und Bewährte zu bewahren. Standpauken über Krisen, Misstände und Versäumnisse könnten die Festlaune verderben. Ich bemühte mich deshalb umso mehr um den „richtigen Ton“. Ich denke, es gelang mir ganz ordentlich – die faulen Eier blieben in der Tüte.

2020 ist anders. Erstmals seit 120 Jahren (der 1. August wird erst seit 1899 in der ganzen Schweiz gefeiert) finden dieses Jahr kaum 1. Augustfeiern statt. Zum grossen Leidwesen aller Patrioten hat ein fremder unbekannter Feind das Zepter übernommen. Im annus horribilis 2020, macht Corona selbst das Unmögliche möglich und so bleibt ausgerechnet in einem Jahr, wo es wahrhaft viel zu sagen gäbe, vieles ungesagt. Darum sage ich hier, was ich zu sagen hätte.

Liebe Festgemeinde

Was gibt es dieses Jahr am 1. August zu feiern, mögen sich viele fragen. Gut – Geburtstage feiert man auch wenn man im Krankenbett liegt – trotzdem ist die Feierlaune getrübt und im schlimmsten Fall hat der Arzt auch noch Bier und Bratwurst verboten. Ich brauche den Übeltäter kaum zu benennen – er ist allgegenwärtig. Blöd ist, er will und will einfach nicht verschwinden – da helfen weder laute Parolen, Forderungen noch Parteitagsbeschlüsse. Das Zepter schwingt ein unsichtbares Nichts – ein Virus weist uns in unsere Schranken. Ein Umstand der offensichtlich vielen zu schaffen macht. Rücksicht auf Befindlichkeiten, Verordnungen oder politische Augenwischereien, sind dem Käfer aber in etwa so fremd, wie mir Chinesisch.

Wir können natürlich ins Lamento der Bedenkenträger, der Weltuntergangspropheten oder dem der Sozialdarwinisten einstimmen. Wir können die Chinesen, 5G, die WHO oder Bill Gates verantwortlich machen. Ja selbst die Existenz von Covid-19 und der Pandemie, mit all ihren Toten, lässt sich leugnen. Der Seuche ist es egal – sie gedeiht prächtig und hat heute die 17-Millionengrenze, unbeeindruckt von jeglicher Verharmlosung und „zurück zur Normalisierung Rufen“ geknackt. Bevorzugt grassiert sie an Orten, in denen sie am lautesten ignorieret und geleugnet wird – bei Nachtclubbesuchern, in Deutschen Fleischfabriken, in Bolsonaros Brasilien und Trumps Amerika. Noch selten wurden Leugner und Idioten so gnadenlos vorgeführt. Man könnte also meinen, es wäre uns allen eine Lehre und schliesslich halten wir uns für einen „Sonderfall“ und wähnen uns als weit gescheiter als der Rest der Welt. Doch weit gefehlt. Auch hierzulande greift die Faktenresistenz um sich und es wird eifrig im Chor einer Allianz aus Aluhüte, Narzissten und rechtsextremen Pack, mitgesungen. Dass es immer welche gibt, die hinterher alles besser wissen, ist nicht neu. Neu ist jedoch der massenhafte Rückfall ins tiefste Mittelalter, als Wissenschaft noch Alchemie und Heilkunde noch Hexenwerk war. Erklärungsversuche für ein derart irrationales Verhalten gibt es viele – für mich sind es Zeichen einer Überforderung. Was nicht sein darf – ist nicht – also wird es geleugnet oder mit abstrusen Theorien ins eigene Weltbild integriert.

Auffallend sind die Parallelen zur Leugnung die Klimakrise. Bereits vermelden Exponenten der SVP euphorisch, diese fände nun definitiv nicht statt – der Sommer 2020 sei so kalt wie anno 1984. Für jene deren Welt am Hochrhein endet, eine durchaus plausible Meinung, schliesslich macht mich der heutige Salat auch nicht dick und die Pasta der letzten Monate ist längst verdaut. Leider aber kümmert sich auch das Klima nicht um Meinungen und hält sich stur an die Physik. Unbekümmert lassen Rekordtemperaturen den Permafrost in Sibirien schmelzen, droht der Drei-Schluchten-Damm im Jangtse nach Rekorniederschlägen zu brechen, sind Millionen der Flut ausgeliefert und der Amazones brennt einmal mehr, wie nie zuvor. Das solche Ereignisse von den Klimawissenschaftlern seit Jahren prognostiziert werden, ist selbstverständlich Zufall. Nur gut hält sich Greta und die Klimajugend an die Pandemiemassnahmen, sonst wäre es aus mit der Beschaulichkeit und Ruhe.

Wer kann den Wunsch danach nicht verstehen? Es läuft oder lief ja alles so schön in geordneten Bahnen. Zu klagen gab es höchstens etwas über die lärmige Nachbarschaft, die ungebetenen Asylbewerber, die uns auf der Tasche liegen, der Schliessung der Postfiliale und die hohen Krankenkassenprämien. Man will bewahren und wählt jene, die uns am glaubhaftesten versichern, sie wären jene, die dafür sorgen, dass alles bleibt wie es ist. Nicht umsonst gilt die Schweiz mit einer seit Jahrzehnten, soliden, stabilen bürgerlichen Mehrheit als konservativ. Dieser Konservatismus konnte uns allerdings weder vor Corona, dem Klimawandel, der Digitalisierung, der Zuwanderung noch der Zubetonierung der Landschaft bewahren. Im Gegenteil – es ist genau diese Geisteshaltung und ihre politischen Exponenten, welche uns dies beschert haben. Nicht nur hier in der Schweiz – weltweit. Würden die sog. Konservativen wirklich bewahren, so wie sie behaupten und sich aus dem Wortsinn ergibt, würde wie Welt anders aussehen. Die Vermutung, dass konservativ ein Etikettenschwindel ist, liegt nahe. Die wirklichen Bewahrer (und damit Konservativen) müssen wir heute bei den Linken und Grünen suchen. Diese wollen Klima und Umwelt schützen, Arbeitsplätze vor Digitalisierung und Abwanderung in Billiglohnländer bewahren und sind die vehementesten Befürworter des bewährten Service Public. Ihnen die Absicht die Schweiz mit unnötigen Gesetzen und Vorschriften oder gar einem EU-Beitritt in den Ruin zu treiben, ist also ein ziemlich billiges Ablenkungsmanöver.

Weltweit sieht es auch nicht besser aus – im Gegenteil. Im Vergleich zu den Hochburgen des Internationalen Wahnsinns, ist die Schweiz tatsächlich eine Idylle. Immerhin das könnten wir feiern. Aber eben – unter den Blinden ist der Einäugige bekanntlich der König. Eines aber haben wir vielen Ländern voraus – wir können ungehindert unsere Meinung sagen. Ein Privileg das wir nutzen und schützen sollten. Wir werden es garantiert noch brauchen.