05.02.2021: Trilogie der Entfremdung Teil III – Wirklichkeit

Vermutlich habe ich mich mit der Beantwortung der Frage. weshalb wir so oft gegen unsere eigenen Interessen handeln, etwas überfordert. Egal wie oft ich sie drehe und wende, ich finde fast ausschliesslich Aspekte und Gründe, welche diese „Schizophrenie“ erklären oder gar rechtfertigen. So ist es mit der Entfremdung in Teil I und so mit dem Selbstbetrug in Teil II. Wahrscheinlich zu Recht, warf mir eine kritische Leserin vor, es drehe sich zu sehr um die Befindlichkeiten privilegierter Wohlstandsbürger. Und sie hat Recht.

Es beginnt schon mit der Frage. Diese stellt nur jemand, der sich überlegen fühlt und die Antwort zu kennen glaubt. Sie ist ichbezogen und nimmt die Antwort vorweg, die nur „unsere Dummheit“, lauten kann. Sie ist arrogant und elitär, und führt in die Irre. Denn wenn uns auch menschliche „Schwächen“ zu irrationalem Denken und Handeln verleiten, so finden die nie in einem luftleeren Raum statt. Entscheidend ist vielmehr das Setting oder der Rahmen, in. dem dieses erst zum tragen kommt und Wirkung entwickelt. Die Frage müsste also lauten: Wer oder was bringt uns dazu, gegen unsere eigenen Interessen zu handeln?

Nehmen wir den Fischer, der zusammen mit einhundert anderen Berufskollegen zum Fischen hinausfährt um möglichst viele Fische zu fangen, obwohl er weiss, dass so die Fanggründe bald leergefischt sind und er damit seine Lebensgrundlage verlieren wird. Fährt er aber nicht hinaus, weiss er, dass „seine“ Fische einfach von den 99 anderen Kollegen mitgefischt werden. Also, warum zu Hause bleiben – auch wenn es die Vernunft gebietet? Ein Dilemma – was ist wichtiger: Persönlicher Nutzen jetzt, oder Gewinn für Alle, in der Zukunft?

Wir können fast jedes aktuelle Thema nehmen – das Dilemma manifestiert sich immer gleich. Ich oder wir, jetzt oder später. Verzichte ich auf den Flug nach New York oder verzichte ich zu Gunsten des Klimas – der Flug findet trotzdem statt. Ist mir ein grosser Ertrag wichtiger, als das Trinkwasser der Gemeinde? Verzichte ich auf Chemie und schütze den Boden auch für meine Kinder? Ist mein Wohlbefinden wichtiger, als das Tragen einer Gesichtsmaske um damit das Leben anderer zu schützen?

Zum oben beschriebenen Dilemma gesellt sich noch ein weiteres. Das Einhalten von Regeln und der Verzicht auf unmittelbare Bedürfnisbefriedigung ist selten lustig. Im Gegenteil. Jeder der mal mit Rauchen aufhören wollte, kann davon ein Lied singen. Ob es gelingt oder nicht hängt von der Beantwortung einer einzigen Frage ab. Wer ist hier der Chef? Das Objekt der Begierde (z. B. die Zigarette) oder ich? Ebenso fallen Verbote schwer die uns einschränken. Egal ob schnelles Fahren, Party feiern in der Pandemie oder die Nutzung umweltschädlicher Gifte – der „Verzicht“ nervt. Wir wissen aber auch, dass alles Wissen über die Konsequenzen unseres Handelns nichts nützt, wenn ich keinen Mehrwert durch meine Verhaltensänderung zu erwarten habe – und sei es nur Lob und Anerkennung. Dass dies auch im Kollektiv funktioniert, beweisen z. B. die zum Teil seit Jahrhunderten funktionierenden Allmeinden oder Alpgenossenschaften. (Beispiel dafür sind die Suonen im Wallis) Diese bringen dank selbstbestimmten Satzungen Einzel- als auch Gesamtinteressen perfekt unter einen Hut. Das Geheimnis des Erfolgs: Die Regeln sind selbst gemacht – also selbst bestimmt.

Und damit nähern wir uns auch der Antwort auf die eingangs gestellte Frage. Sie lautet: Selbstbestimmung! Denn wer selbst bzw. mitbestimmt – also Teil von etwas ist, akzeptiert auch seine Regeln. Wer fremdbestimmt ist, lehnt sie (mehrheitlich) ab. Zumindest hier in der Schweiz hätten wir die Instrumente dazu. Sie heissen Demokratie, Föderalismus und Gemeindeautonomie. Nur werden sie immer weniger genutzt, bzw. jenen überlassen, die das System zu ihren eigenen Gunsten zu wissen nutzen. Den Lobbyisten, Egoisten und Demagogen.

Wie das aktuell funktioniert, sehen wir gerade an den drei Vorlagen, über die wir am 7. März abstimmen können. Die an sich sinnvolle Schaffung eine elektronischen Identität (E-ID) wird mit den Interessen der Privatwirtschaft verknüpft (denn diese, und nicht der Staat soll diese ausstellen können). Das Freihandelsabkommen mit Indonesien spült in erster Linie 25 Millionen zusätzliche Gewinne in die Kasse der Lebensmittelmultis (Palmöl) und rettet nicht einen Quadratmeter Regenwald – auch wenn das behauptet wird. Und zu guter letzt, die Burkainitiative. Hand aufs Herz – wer sah letztmals eine vollverschleierte Frau in der Schweiz (ausser man wohnt in Interlaken)? Und glaubt jemand ernsthaft, den Initianten (einem ominösen Altherrenclub um $VP und EDU) ginge es um die Befreiung der Frauen? Ihre Plakate sprechen eine andere Sprache (man beachte die Augenpartie). Es geht einzig um Angst. Angst vor Fremden. Darum, dass wir sie (die selbsternannten Retter der Schweiz) zukünftig wählen. Selbstbestimmt handeln heisst somit: Hinter die Kulissen schauen und die verborgenen Absichten aufdecken. Es beginnt mit dem Erkennen der Lüge. Daraus folgt das Erkennen der Wirklichkeit. Dies ist der beste Garant nicht betrogen zu werden.

29.01.2021: Trilogie der Entfremdung Teil II – Selbstbetrug

Teil I meiner Trilogie endet mit der Feststellung, dass wir uns oft selbst betrügen. Nicht weil wir „dumm“ sind, sondern weil wir uns durch einfache „Lösungen“ in die Irre führen lassen. Leider unterstützt uns dabei auch noch die „menschliche Natur“, welche zu Kurzschlüssen neigt. Im Fachjargon auch als „Heuristiken“ bekannt. Was heisst das?

In der Regel wird ja unsere Vernunft und Rationalität beschworen. Stolz tragen wir diese vor uns her und meinen, uns könne niemand etwas, weil wir ja so schlau sind – die „Mutter aller Irrtümer“, quasi. Denn, was wir schlau nennen, ist nichts anderes als die vorherrschende Meinung des sozialen Milieus, (Mehrheitsmeinung) in dem wir leben. Das sagt jedoch nichts darüber aus ob diese gut oder vernünftig ist. Sie ist bestenfalls akzeptiert, meistens manipuliert und schlimmstenfalls diktiert (z. B. in Diktaturen). Beispiele dazu folgen weiter unten im Text. Der zweite Irrtum dem wir unterliegen, ist die Überzeugung, unsere Entscheidungen und Handlungen wären unserem Verstand geschuldet. Doch da ist unser „Bauch“, der das Rennen meist gewinnt und am Ziel ist, bevor der Verstand überhaupt startet. (Parallelen zur Fabel vom Igel und dem Hasen, sind rein zufällig). Um Energie zu sparen ruft unser „Bauchhirn“ nämlich Muster ab. Es greift auf „Bekanntes“ (oder eben Heuristiken) zurück und reagiert blitzschnell, bevor wir den Denkapparat überhaupt einschalten – dieser darf das Resultat dann bestenfalls noch rechtfertigen, bzw. begründen. Dank diesem Reflex, hat ein Geräusch im Gebüsch, viele Steinzeitjäger vor dem Säbelzahntiger gerettet. Seit diese ausgestorben sind, wendet sich diese Überlebensstrategie jedoch gegen uns. Denn genauer hinschauen, wäre in einer komplexen Welt von Vorteil, und eine weitaus bessere Überlebensstrategie. Diese Ausgangslage spricht also schon mal gegen die Überlegenheit der menschlichen „Vernunft„. Erst recht nicht in einer sozialen Gemeinschaft, auf deren Wohlwollen wir angewiesen sind. Das Resultat kennen wir – es nennte sich Schwarmdummheit und führt mehr und mehr zu Krisen.

Aus dem bisher Gesagten könnte man jetzt schliessen, das die ganze Misere den Defiziten der menschlichen Natur geschuldet ist. Und da diese sozusagen „gottgegeben“ (oder eben evolutionär) auch nicht zu ändern ist. Was sich also abmühen? Der Mensch ist, wie er ist. Beschränkt, gierig und träge. Oder wie anders erklärt es sich, dass wir konsequent gegen unsere eigenen Interessen handeln und uns selbst belügen?

Schauen wir dazu ein paar Beispiele an. „Wir“ (die meisten Landwirte) spritzen unser Gemüse mit Pestiziden, im Wissen darum, dass wir damit unser eigenes Trinkwasser vergiften – die möglichen Ertragseinbussen wiegen schwerer. „Wir“ (die es sich leisten können) fliegen um die halbe Welt, im Wissen darum, dass wir damit das Klima belasten – der Wunsch nach Sonne, Meer und Party ist eben grösser. „Wir“ (die überwiegende Mehrheit) isst Fleisch in rauen Mengen, im Wissen darum, wie stark die Fleischproduktion Umwelt, Tierwohl und Klima belastet – Genuss und Gewohnheit sind stärker. Wir nutzen Google, WhatsApp, Amazon, weil es bequem und günstig ist und ärgern uns wenn wir mit Werbung zugemüllt und Läden geschlossen werden. Wir kaufen Kleider die unter widrigsten Bedingungen in Bangladesch zusammen genäht werde, gehen auf Kreuzfahrt, schliessen Freihandelsverträge mit Diktatoren und wählen Politiker, die uns verarschen – die Liste ist endlos. Auch ich bin von dieser nicht ausgenommen. Selbstbetrug ist Alltag und Teil unseres Systems. Wie ist das möglich?

Das Erkennen unserer „Natur“ ist das Eine („Erkenne dich selbst!“ riet schon das Orakel von Delphi vor 2500 Jahren), das Andere ist das Durchschauen des Systems, in dem wir leben. Kurz gefasst könnte man sagen: Das System baut auf unsere Schwächen und macht es uns einfach „dumm“ zu sein – also sich selbst und sich betrügen lassen. Man kann sogar sagen, es belohnt den (Selbst)Betrug und bestraft jene, welche der Wahrheit verpflichtet sind. Dieser Pakt mit dem Teufel (Belohnung durch Selbstbetrug), hält unser System im Gange. Ein System, das in Wirklichkeit wenigen dient und allen Schaden zufügt. Und hier kommt wieder die Entfremdung ins Spiel. Denn es ist diese, die uns in die Irre führt. Aber wie?

Je grösser die zeitliche und geografische Distanz zwischen unserem Handeln und den daraus folgenden Konsequenzen, desto einfacher fällt der (Selbst)Betrug. Und je fremder uns jemand oder etwas (also Menschen oder ihre Religion/Kultur z. B.) ist, umso leichter fällt es uns, diese abzulehnen oder auszugrenzen. So fällt es dann leicht, das Flüchtlingselend am Rande Europas auszublenden. Denn dieses ist a) weit weg und b) betrifft es Fremde. Ein fataler Trugschluss, denn es ist „unsere“ Politik, die zu diesem Elend führt und es ist unsere Glaubwürdigkeit die zerstört wird. Es ist stets das gleiche Muster. Solange andere, möglichst weit weg oder viel später, die Folgen unseres Tuns zu tragen haben, umso leichter fällt es uns nicht über unser Handeln nachzudenken. Dazu gesellt sich, angesichts der Problemberge, eine „Ohnmacht“, die viele passiv werden lässt. Fast wie im Mikado geht es darum: Wer (was) sich zuerst bewegt, hat verloren. Bestes Beispiel dafür ist wahrscheinlich die Klimakrise, die alles oben Beschriebene in sich vereint. Trifft es uns dagegen direkt, wie z. B. die aktuelle Pandemie, ist Widerstand programmiert. Zu diesem gehört das Leugnen des Unabänderlichen genauso, wie die Schuldzuweisungen. (es sind immer die Andern). Wie kommen wir da raus, ist die grosse Frage. Denn dass wir da raus kommen müssen, steht ausser Frage. Selbstbetrug mag bequem sein, endet in der Regel aber in einem Fiasko.

Wie wir da rausfinden können ist Thema im 3. Teil, nächste Woche. Titel: Wirklichkeit . Dazu schon mal ein Zitat von Greta Thunberg vorab (aus ihrer Rede vom 25.1.2021 am virtuellen WEF):

Hoffnung ist für mich das Gefühl, welches dich am Laufen hält, auch wenn alle Chancen gegen dich stehen. Hoffnung kommt für mich nicht aus Worten, sondern aus Taten. Für mich sagt die Hoffnung, wie es ist, egal wie schwierig oder unangenehm das sein mag.“

21.01.2021: Trilogie der Entfremdung Teil I

Schon seit Jahre grüble ich an der Frage herum, die mich manchmal fast zur Verzweiflung bringt. „Wieso handeln so viele Menschen gegen ihre eigenen Interessen?“ Anders gefragt: Warum wählen so viele Menschen einen Trump, Bolsonaro, die AfD oder $VP? Zumindest wer die $VP wählt ist mir als Sohn einer Kleinbauernfamilie aus dem Zürcher Weinland bekannt. Teile der Familie, viele Nachbarn und ehemalige Schulfreunde. 58,1% sind es aktuell in meiner Wohngemeinde, dort wo ich aufwuchs sind es 60%+. Was also bringt so viele Menschen dazu eine Politik zu wählen, die gegen Andersdenkende hetzt (die Linke und Nette mit Würmern vergleicht), Ausländer für jedes Problem verantwortlich macht (selbst wenn diese vor ihren Augen die dreckigsten und schwersten Arbeiten zu lächerlichen Löhnen verrichten), gegen jede Vernunft Fakten leugnet (z. B. den Klimawandel) und ausser Steuersenkungen für die Reichen kaum mit Zukunftsvisionen glänzet? Bauern, Handwerker, Garagisten und Bürogummis. Mitglieder der Feuerwehr, der Landfrauen und des Turnvereins. Zumindest in den Landgemeinden gehören sie mit zu den engagiertesten Mitbürgern. Die $VP sitzt in den Gemeinderäten, Schulbehörden und Kommissionen. Sie schauen im Winter für die Schneeräumung, kümmern sich ums Wasser und flicken Strassen. Kein Grund also, sie nicht zu wählen – wenn da nicht die politische Agenda einer zynischen Clique von Milliardären und Opportunisten wäre, die eine komplett andere Agenda verfolgen. Eine der Ausgrenzung und der Selbstbereicherung. Das gleiche Programm wie Trump, Bolsonaro oder Orban, die es mit ihren Lügen und ihrer Menschenverachtung schaff(t)en, von Millionen angehimmelt zu werden. Eine Politik des Hasses und des Selbstbetrugs. Sind die alle gaga?

Nein, SIND sie nicht, und ja, ES IST gaga. Wenn die einzig verbleibende „Alternative“ zu konstruktiven Lösungen, die Wahl von Lügnern, Rassisten, Opportunisten oder gar Kriminellen ist, läuft etwas gewaltig schief. Ebenso bedenklich ist, dass die Lösung dringend anstehender Probleme, in deren Leugnung, der Verunglimpfung der Mahner, der Ablehnung der Wissenschaft und dem Glauben an abstruse Verschwörungsmärchen gesehen wird. Und irrwitzig zu meinen mit Abschottung, Grenzschliessung und Isolation liessen sich globale Probleme lösen. Nicht nur aus der Sicht des politischen Gegners, auch rein objektiv und gestützt auf Fakten und Geschichte, ist eine solche Politik ein Desaster. Auch hier dient der eben in die Wüste geschickte Trump, als abschreckenderes Beispiel. Sein Nachfolger erbt ausser einem Scherbenhaufen auch noch Hass und Gewalt. Soweit, so gaga – Problem erkannt – nur Deppen wählen solche Politiker – egal wen, egal wo. Wenn es denn so einfach wäre.

Ist es natürlich nicht! Nicht die Menschen, die sich irrational verhalten sind gaga, sondern die Umstände, die sie soweit bringen. Gaga, im Sinne von bedenklich. Und um das besser zu verstehen, habe ich kürzlich zwei Bücher Amerikanischer Autoren gelesen. „Hillbilly Elegie“ von J. D. Vance und „Homeland Elegien“ von Akhtar Ayad. Beides Familiengeschichten aus den Trumplands – jenen Gegenden Amerikas, wo Trump auch heute noch die grössten und fanatischsten Unterstützer hat. Also über die „Deporablen“ (zu Deutsch: die Bedauernswerten, wie sie einst Hillary Clinton nannte) des Amerikanischen Rostbelt – den Opfern der Globalisierung und des gnadenlosen Neoliberalismus, der letzten 40 Jahre. Ich will und wollte verstehen. Verstehen, warum diese Menschen einem notorischen Lügner mehr glauben, als den offensichtlichen Tatsachen. FakeNews mehr vertrauen als Fakten. Die Wissenschaft verteufeln und Scharlatane bejubeln. Was es braucht, dass Menschen ihr Heil bei Kleptomanen, Rassisten und Lügnern suchen. Und ich wurde fündig. Nicht nur Amerika und Trump betreffend – es öffnete mir auch die Augen für viele andere Themen hier, direkt vor unserer Haustüre.

Das Eine sind die der Profitmaximierung der Konzerne geopferten Arbeitsplätze, die zu Millionen in „Billiglohnländer“ verlagert wurden (in Amerika vor allem nach Mexiko und China) – das Andere, was darauf folgte. Während in Amerika ganze Städte und Landstriche dem Profit „geopfert“ und die Menschen ihrem Schicksal überlassen wurden – also Food Stamps (Essensmarken), Schulden, Drogen und der Hoffnungslosigkeit – so griff bei uns das Bildungssystem und das Soziale Auffangnetz. Auf den ersten Blick also kein Vergleich mit den deporablen Zuständen in Wisconsin, Virginia oder Luisiana. Und trotzdem gibt es auffällige Parallelen. Hier, wie dort hat es mit „Entfremdung“ und „Entwurzelung“ zu tun. Was meine ich damit?

Das Sein bestimmt das Bewusstsein„, wussten schon Feuerbach, Hegel und natürlich Karl Marx – d.h. es sind die Lebensumstände (oder auch das Milieu bzw. die Kultur), welche unser Denken und Handeln bestimmen. Umgekehrt verändert unser Denken und Handeln natürlich auch unsere Umwelt. Unser ganzer Fortschritt, sei er technischer oder gesellschaftlicher Natur, beruht auf dieser „Naturkonstante„. Und somit wären wir mitten im Thema. Wem der Boden unter den Füssen entzogen wird, weil er z.B. den Job und die Krankenversicherung verliert, an der Kasse einer Fastfoode-Kette zum Mindestlohn von 7.25$ landet, aus dem Haus geworfen wird und kriminelle Gangs die Strasse terrorisieren, hat verständlicherweise wenig Bock auf das hochtrabende Geschwätz wohlmeindender Politiker, Soziologen und Wissenschaftler der Teppichetagen in Washington. Erstens hat er dafür keine Zeit, zweitens keinen Bock und drittens versteht er nicht einmal, was die meinen. Da haben es einfache Parolen, dumme Sprüche und leere Versprechungen leicht, wenn diese mit Zukunftsversprechen verwoben sind – gelogen oder nicht, spielt dabei kaum eine Rolle. Die Entfremdung ist beinahe total. Der Unterschied der Lebenswirklichkeit der Einen und dem privilegierten Leben der Andern, könnte kaum grösser sein. Der ideale Nährboden für Verschwöhrungsgeschichten, Misstrauen und Hass. Das perfekte Rekrutierungsfeld für Rassisten, Heilsversprecher und Hassprediger aller Schattierungen. Wer vom Staat allein gelassen (also entfremdet) wird, erwartet von diesem irgendwann nichts mehr und greift nach jedem Strohalm der vorbei schwimmt – selbst wenn dieser der Teufel selbst ist. Und was hat das mit der friedlichen Schweiz zu tun?

Was die Lebensumstände betrifft, wenig. Hier funktioniert meist noch der Sozialstaat. Bis unter die Brücke oder den Trailerpark am Stadtrand (gibt es bei uns nicht), ist es ein vergleichsweise weiter Weg. Was die Entfremdung von den politischen und gesellschaftlichen Eliten betrifft, gibt es jedoch viele Gemeinsamkeiten. Während in den USA Schulen vergammeln, Strassen verlottern und medizinische Hilfe unerschwinglich wird, beschleicht hier manche das Gefühl, wir würden von Firmen, Politik und Behörden nur noch gegängelt. Ist man über 50, wird entlassen, und tritt an meine Stelle noch ein junger, „günstiger“ Ausländer, ist der Fremdenhass nicht weit. Auch wenn der Ausländer dafür nichts kann. Wenn die Dorfbeiz schliesst, die Post ins Nachbardorf zügelt, der Nachbar plötzlich Kroatisch spricht und vor mir an der Ladenkasse eine Frau mit Kopftuch ihren Einkaufskorb leert, ist das Gefühl der Entfremdung nicht weit. Und wo Entfremdung um sich greift, liegt es nah, das Fremde zu entfernen. Problem gelöst. Währenddessen verändert sich das Leben immer schneller. An der Ladenkasse soll ich mit Twint, ApplePay oder sonstwas zahlen, für die Covid-Impfung muss ich mich online anmelden oder stundenlang in einer Warteschlaufe auf eine menschliche Stimme warten, währenddessen die Bank ihren Schalter für immer schliesst. Der Staat meldet sich bestenfalls mit neuen Vorschriften und Verboten. Bald will er noch Ölheizungen verbieten und das Benzin verteuern. Es gibt also „gute Gründe“ frustriert zu sein. Da liegt der Wunsch nach Idylle nah und der Ruf nach Durchgreifen und alter Ordnung wird lauter. Der Selbstbetrug nimmt seinen Lauf.

Trilogie Teil 2 am 27.01.2021: Selbstbetrug