Unbegreiflich

Letzte Woche traf ich mich wieder einmal mit meinen Freunden aus den Sturm- und Drangjahren. Der Zeit also, als wir die Welt noch aus der Angel heben und die proletarische Revolution ausrufen wollten. Symbolträchtig fand unser Männergipfel bei Pasta und Wein, an dem Ort statt, wo wir uns vor bald 50 Jahren, beim Verteilen von Flugblättern an die Arbeiterschaft der Sulzer Winterthur, die Füsse abfroren.

Sinnbildlich für die Veränderungen der letzten 50 Jahre steht das Restaurant und das Tössfeld-Quartier. Anstelle von Ghackets und Hörnli serviert man jetzt edle italienische Spezialitäten, und dort wo einst die Schlote qualmten, der Dampfhammer das Eisen bog und Hammerschläge durchs Quartier hallten, stehen heute hippe Einkaufszentren, werden Muskeln gestählt und Studenten unterrichtet. Velos und Kinderwagen haben Lastwagen und Gabelstapler von der Strasse verdrängt. Tischgespräch war, wie schon damals, der blamable Zustand unserer Welt. An Stoff fehlte es, nach fast zweijähriger coronabedingter Zwangspause, wahrhaft nicht. Und so mäandrierte die Diskussion zwischen KI (Künstliche Intelligenz), autonomen Fahren, Corona, Impfen, $VP, Klima und Afghanistan. In Dialektik geschult, fehlte natürlich eine gehörige Portion Selbstkritik und Reflexion dazu. So auch die hypothetische Frage, ob wir es denn besser gemacht hätten, was die Menschen gleichgültig und träge macht und wie man mit den permanenten Rückschlägen umgeht. Wie bleibt man Teil der Lösung und wird nicht selber zum Problem? Und ja, es ging auch um meinen Blog, der oft genug von pessimistischen Tönen durchzogen ist. Was also trägt ein Blog, der in oft sarkastischem Ton, die Versäumnisse in Gesellschaft und Politik anprangert, zur Lösung der beklagten Defizite bei?

Kurz gesagt: natürlich nichts. Der Anspruch wäre auch zu vermessen. Dazu braucht es a) mehr als 50-100 Leser:innen und b) reicht das Benennen von Problemen oder das blamieren von Akteuren kaum um etwas zu bewegen. Die andernorts bedauerte Feststellung, dass es heute an Visionen fehlt oder sämtliche Alternativen historisch gescheitert oder diskreditiert sind, schlägt sich durchaus auch hier und in meinem Denken nieder. Es weht quasi ein Hauch von Nihilismus (alles ist egal, nichts hat einen Wert, etc. ) durch die Gesellschaft. Aber weshalb? Warum fehlen das Engagement, bzw. Mehrheiten für überfällige Veränderungen? Beginnend mit dem Klima (CO2- Gesetz), der EU (Rahmenabkommen), der Altersvorsorge (Demographie), Pandemie (Impfpflicht) bis hin zur Migration (Afghanistan, Mittelmeer usw.), der $VP (ihre trumpeske Politik wird immer gefährlicher) oder der wachsenden Ungleichheit (hier und weltweit). Ist es Bequemlichkeit? Gleichgültigkeit? Sind wir Gefangene im Hamsterrad von Alltag, Beruf und Karriere? Lassen wir uns zu sehr manipulieren oder gar „kaufen“? Oder übertreiben wir hier am Tisch masslos und alles ist halb so schlimm? „Unbegreiflich“ für uns, unbegreiflich für viele.

Der Sommer war lausig, die Ferien bescheiden, wohin fährt ihr im Herbst? Das sind Themen die bewegen. Man kann sich das privilegierte Leben auch kaputt reden. Ist es das? Interessiert sich überhaupt noch irgendwer für etwas anderes, als sich selber. Oder ist es einfach immer das gleiche Grüppchen Stänkerer, das alles besser zu wissen glaubt? Fragen die auch hier schon breitgetreten wurden. Ohne wirklich beantwortet zu werden. Aber wer liefert uns diese? Politiker:innen? Philosoph:innen? Gurus? Die Wissenschaft? Alle – samt und sonders – auf die eine oder andere Weise diskreditiert. Das Vertrauen verloren. Ausverkauf der Ideen – der Wühltisch der Ideen ein einziges Durcheinander. Statt Schnäppchen landet Ramsch im Einkaufskorb. Nichts von Dauer, nichts von Wert. Das Resultat beklagenswert – es ist unbegreiflich.

An Theorien, weshalb es so ist, wie es ist – weshalb wir z. B. so träge und zögerlich auf Probleme reagieren – gibt es viele. Sind wir einfach wohlstandsverwöhnt – sprich zu faul – um den Finger aus dem Allerwertesten zu kriegen und an unserem Verhalten etwas zu ändern? Oder sind wir nicht einfach zu beschäftigt mit unserem Alltag, dem Beruf, der Familie oder Karriere? Fehlt es an drängenden Problemen oder werden diese nicht als solche wahrgenommen? Fehlen Vorbilder, Visionen und Ziele – oder fehlt einfach die Fantasie? Manche würden diese Fragen unbesehen mit Ja beantworten. Ich hüte mich davor. Die Welt ist zu komplex für einfache Antworten.

Zumindest an drängenden Problemen dürfte es nicht mangeln, sofern diese als solche überhaupt erkannt werden. Doch wie beim Arzt, beginnt die Heilung mit der Diagnose. Wie schwierig es ist, sich auf eine solche zu einigen, führt uns Corona vor Augen. Entsprechend wirr und diametral sind die Lösungsansätze. Einige leugnen sogar dessen Existenz und wittern eine Verschwörung von ganz ganz oben. Das Resultat ist eine endlose Pandemie. Ähnlich die Klimakrise. Ist es nur das Wetter das spinnt, oder sind wir schon mitten drin? Hat die Wissenschaft recht oder will uns der Staat nur abzocken? Sicher ist nur: Es fehlt sowohl ein gemeinsames Verständnis, als auch eine von allen anerkannte Methode. Wer aber (generell ) der Wissenschaft misstraut, ist umso anfälliger für Scharlatane und Manipulationsversuche. Die Trychlerumzüge der „Massvollen“ legen davon ein eindrückliches Zeugnis ab. Es scheint als wäre ein Krieg der verschiedenen Wahrheiten im Gange (bei Trump hiess es noch Alternative Fakten). In Wahrheit ist es ein Krieg gegen die Vernunft, d.h. die Aufklärung, Wissenschaft und Demokratie. Wer Lügen mit Fakten gleichstellt, verfolgt eine düstere Agenda, die nur im Aberglauben, Despotie und einer Form der Diktatur enden kann. Was unbegreiflich erscheint, bekommt so einen Sinn. Die „Aufklärung“ ist also noch lange nicht zu Ende. Um es mit Kants Worten zu sagen: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Muthes liegt, sich seiner ohne Leitung eines anderen zu bedienen. In diesem Sinne verstehe ich auch meinen Blog – er ist mein kleiner bescheidener Beitrag zur Aufklärung. Und so endete der Abend im Konsens und der Absicht, lieber Teil der Lösung, als des Problems zu sein.

Beim Barte des Propheten

Beim Barte des Propheten

Was kümmert uns Afghanistan? Weit weg, irgendwo in den Weiten Asiens. Uns so fremd wie Aliens von einem andern Stern. Frauen unter Sacktüchern, Männer in Pluderhosen, Turban und AK-47. Dazu die schrecklichen Bilder am Fernseher, die Meldungen über Terror, Tod und Gräueltaten. Dabei hätten wir selber genug Sorgen. Corona, Klima, lausiger Sommer. Und doch lassen uns die Bilder nicht los. Beim Barte des Propheten – der Versuch, die Dinge zu orten.

In nur zwei Wochen zurück ins Mittelalter. Man reibt sich die Augen und sitzt ungläubig vor der Glotze. Bilder aus einer längst tot geglaubten Zeit laufen über den Bildschirm. Zum Unglauben mischt sich Ohnmacht und zu dieser gesellt sich Entsetzen. Wie ist so etwas möglich? Es fühlt sich an, als würde eine ganze Ära geschreddert. Alles an was „man“ glaubte, löst sich auf und macht Platz für eine diffuse Angst. Am Horizont erscheint ein neues dunkles Zeitalter. Die bärtigen Koranschüler vom Hindukusch wecken tiefste Ängste und erinnern an abgehackte Hände, gesteinigte Frauen und baumelnde Leichen an Laternenmasten. Alles wofür sie stehen, Frauenverachtung, Gräuel und Tod, kehrt uns den Magen. Angewidert wendet man sich ab wünscht sich der Albtraum fände ein Ende. Leider hat dieser aber erst begonnen.

Clever sind sie – zumindest ihre bärtigen Führer. Mutig auch – auf jeden Fall die armen ungebildeten Kerle aus den ausgedorrten Tälern des Nori Shah und des Koh-i-Baba. Wie sonst hätten sie es geschafft in nur 2 Wochen das ganze Land zu kidnappen? Das Tempo mit dem sie das Land überrannt haben lässt deshalb nur einen Schluss zu: Sie waren nie weg und immer mitten in den Dörfern und Städten – wenn nicht physisch, so doch als „Meme“ (tief verwurzelt in den Köpfen und der Kultur des Landes). Nicht umsonst machten sie sich das arabische Sprichwort, „Ihr habt die Uhren, wir die Zeit“ zu eigen. Ideen gedeihen mit der Zeit, wenn sie auf fruchtbaren Boden fallen. Und dieser ist und war fruchtbar für die „Gotteskrieger“. Armut, Hoffnungslosigkeit, kaum Bildung und eine korrupte, geldgierige Elite, Warlords und Drogenhändler, liefern dazu den Dünger. Und nun steht Afghanistan als Symbol und Mahnmal für das Scheitern. Das des westlichen Denkens, der westlichen Politik, der Menschenrechte, der Aufklärung und für den Sieg der Arroganz und Ignoranz. Ein Debakel mit Ansage, das angeblich niemand kommen sah. Wie blind und ideologisch verblendet kann man eigentlich sein? Einzig die Vorstellung, dass das von all den hochintelligenten Geheimdiensten niemand voraussah, ängstigt mich noch mehr. Das hiesse nämlich, dass wir es an den Schaltstellen der Macht, mit absoluten Dilettanten oder schamlosen Lügnern zu tun haben. Ich vermute beides. Klarer ist dafür, wer für dieses Versagen den Preis bezahlt – andere. Die afghanischen Frauen als erste, die kleine Bildungselite, das ganze afghanische Volk, welches um Jahrzehnte zurückgeworfen wird, die umliegenden Länder, in welche viele flüchten werden und selbstverständlich wir (der sog. Westen), der nun mit abgesägten Hosen im Regen steht. Doch Halt! Ist das etwa neu? Überraschend? Und was hat das mit uns zu tun? Solange wir hier und die dort sind, – ist die Welt doch in Ordnung. Wirklich?

Götterdämmerung

Das Jammern und lamentieren der westlichen Politiker:innen und Verantwortungsträger ist herzzerreissend. Ihr Versagen kolossal, ihre Scham marginal. Nicht mal die chaotische Schadensbegrenzung mag die Schande zu mindern. Das Vertrauen in die politische Führung ist dahin. Flächendeckend – von Berlin bis Washington und London bis Canberra. Beifall klatschen dafür Islamisten, Terroristen und die Pragmatiker in Beijing. Ihnen winken Macht und Profite. Ihnen erschliessen sich neue Pfründe. Es winken Seltene Erden, Kupfer, Lithium und Erdöl. Ein Bombengeschäft – fast umsonst, wenn man die Geflüchteten und Toten, die verhöhnten Menschenrechte und das Elend der Afghan:innen als unvermeidbaren Kollateralschaden abbucht. Was zynische Politiker und Geostrategen gerade tun. Die Sorgenfalten gelten eher den drohenden Flüchtlingsströmen – den „Strömen“ natürlich, nicht den Geflohenen. Leider aber ist es nicht nur eine Götterdämmerung der westlichen Hegemonialansprüche, es markiert ebenso das Ende vieler uns liebgewordener Gewissheiten. Die Gewissheit, dass Menschenrechte irgend jemand schützen, die Gewissheit, dass die Wahrheit über die Lüge siegt, die Gewissheit, dass wir von kompetentem „Personal“ regiert werden und nicht zuletzt der Gewissheit, dass Probleme mit Sachverstand und Vernunft angegangen und gelöst werden. Makulatur! Entsorgt in der Gerümpelkammer der Illusionen. So sicher wie das Amen in der Kirche ist dafür das Erstarken des islamischen Terrorismus, der nun wieder eine Heimat hat, das Verschwinden der Frauen aus der Öffentlichkeit Afghanistans und der Aufstieg rechter Hetzer quer durch Europa und die Staaten. Während in Kabul verzweifelte Mütter ihre Babys über Stacheldrahtzäune werfen und sich Menschen in Panik an Flugzeuge klammern und in den Tod stürzen, verkünden diese bar jeder Scham, wir hätten es hier mit Vergwaltigern und Bombenlegern zu tun und hätten keinerlei Anlass diesen Menschen zu helfen. So wie das Vertrauen in die politische Führung zerbröselt, dienen sich diese Menschenverachter als Retter der Nation und der weissen Rasse an. Wers nicht glaubt lese hier Roger Köppel ($VP) in watson von heute, Donnerstag den 19.8.2021. Drei gut gefüllte Kühlschränke reichen nicht, für das was ich kotzen könnte. Und wer meint, dies wäre der Gipfel der Menschenverachtung und Erbärmlichkeit, werfe einen Blick über die Grenzen. Statt Verantwortung für das selbst verursachte Debakel zu übernehmen, üben sich die Politiker der Natoländer in mea culpa und machen auf Schadensbegrenzung. Selbstverständlich nicht für die Opfer ihres Tuns, sondern für sich selber. Panisch versichern sie ihrem staunenden Wahlvolk, dass sie ein zweites 2015 zu verhindern wissen. Anders gesagt: Sie stehlen sich aus der Verantwortung. AfD, $VP und die Retter eines arischen Europa von Wien bis Budapest bringen sich schon mal in Position. Es gibt verängstigte Wählerstimmen zu ernten. Die Taliban sind mitten unter uns. Wer dachte, diese versteckten sich in den Höhlen des Hindukusch, sieht sie plötzlich in der Arena, der Tagesschau und an den Parteitagen der $VP. Der gleiche mittelalterliche Schwachsinn, der gleiche Hass auf die „Gstudierten“, das städtische, aufgeklärte Leben. Die gleichen verlogenen Mythen des gesunden, hart arbeitenden Landvolkes. Ob Aeschi, Glarner, Bircher, Köppel und Chiesa auch eine Koranschule besucht haben? Was fehlt ist einzig der Bart, aber der kann ja noch wachsen.

Was sie alle verschweigen ist das kollektive Totalversagen der gesamten verlogenen Hegemonialpolitik des Westens seit dem 2. Weltkrieg. Von Vietnam über den Irak, Syrien, Lybien bis Afghanistan – Debakel über Debakel. Verschwiegen auch die guten Geschäfte mit den Saudis, Kataris, Scheichs und Mullahs am Golf. Statt Demokratie und Menschenrechte, wie vollmundig verkündet – Armut, Despotie, abgehackte Hände und Leichenberge. Auch nicht gesprochen wird von der Ignoranz und Borniertheit, mit der geplant und gehandelt wird. Statt auf Kenner der Verhältnisse, die Wissenschaft und Fachleute zu hören, wird in den Hinterzimmern, fernab der Wirklichkeit, um Einfluss und Macht gepokert. Es erinnert krass an Pipi Langstrumpfs kindliches Gemüt, allerdings um 180 Grad gedreht: „Ich mach mir die Welt, wie sie mir gefällt“. Nur blöd, weiss diese nichts davon. Und damit wären wir bei des Pudels Kern. Der Triumph des Irrationalen! So wie man die Klimakrise mit verleugnen und Greenwashing „bekämpft“ und Corona mit lavieren, verleugnet man rund um den Globus Realitäten, verhöhnt die Wissenschaft und lügt sich die Hucke voll. Trump hat’s vorgemacht. Seine Nachahmer sind zahlreich. Wenn die Probleme zu gross werden, greift die „Elite“ zu den altbewährten Keulen: Aberglaube, Religion und Schwert. Das Zeitalter der Taliban ist angebrochen. Zeit sich einen Bart wachsen zu lassen. Pech für die Frauen.